Gottes Wege sind unergründlich

Joseph Liu, Vancouver, Kanada
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Ein Herzfehler

Jessica wurde im Herbst 1986 in einer stürmischen Nacht um 22:30 Uhr geboren. Nach ihrer Geburt wurde sie von den beiden Dienst habenden Ärzten untersucht: sie war demnach ein gesundes und normales Baby. Und trotzdem war Jessica in ihren ersten Jahren nicht sehr glücklich.

Als sie ungefähr zwölf Monate alt war hörte eine Krankenschwester ihren Brustkorb mit einem Stethoskop ab und schaute uns groß an. Sie hatte festgestellt, dass Jessica ein ungewöhnlich lautes Herzgeräusch hatte.

Wir gingen sofort zu unserem Hausarzt, der das laute Herzgeräusch bestätigte. Nach der Konsultation einiger Kardiologen der Kinderklinik in Vancouver lautete die Diagnose: sie hatte ein Loch in der Verbindungswand der vier Herzkammern und eine verformte Mitralklappe. Ihr EKG zeigte auch, dass in ihrem Herz ein loses Gewebestück sein musste.

Man beschloss, sie so bald wie möglich zu operieren. Wir waren ziemlich entsetzt über diese Entscheidung. Denn ihre Großmutter, Diakonin Chow, war erst vor einigen Monaten gestorben.

Zu der Zeit war Jessica erst ein Jahr alt. Die für sie zuständige Kardiologin hieß Dr. Marion Tipple, eine der besten Kinder-Kardiologen Kanadas. Sie unterrichtete auch angehende Kinder-Kardiologen.

Der operierende Arzt war Dr. Ashworth. Bei der ersten Operation wurde das Loch in ihrem Herzen mit dem losen Gewebestück zugestopft, aber der Versuch, die Mitralklappe zu reparieren war nur zum Teil erfolgreich. Daher würden wohl, so meinten die Ärzte, in der Zukunft weitere Operationen am offenen Herzen notwendig sein.

Immer wiederkehrendes Problem

Wegen ihrer Herzprobleme war Jessica oft ausgesprochen kraftlos und auch sehr anfällig für nur leichte Infekte. Eine leichte Bronchitis ließ sie sofort flachliegen und nach Atem ringen. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit mussten wir sie eiligst zur Notaufnahme ins Krankenhaus bringen, auch mitten in der Nacht.

1988 entschied Dr. Tipple, dass das einzig Sinnvolle wäre, die zweite Operation sofort durchzuführen, und zwar dieses Mal, um ihre Mitralklappe vollständig zu entfernen und sie entweder durch eine Klappe von einem Schwein oder durch eine künstliche Mitralklappe zu ersetzen.

So oder so, da sie ein Kind war, würde sie in Zukunft noch viele Herzoperationen brauchen, weil ihr Herz und die Klappe ja noch wachsen würden. Wir waren zwar durch diese Nachricht völlig am Boden zerstört, aber es blieb uns nichts anderes übrig, als der Empfehlung der Ärzte zu folgen und die Zukunft unserer kleinen Tochter in ihre Hände zu legen.

Seit langer Zeit, genauer gesagt seit über zwanzig Jahren, hatte ich meinen Glauben vernachlässigt und oft nicht ernst genommen, was mich meine Mutter über Christus gelehrt hatte. Nachdem ich eine gute Ausbildung genossen hatte, war für mich das, was meine Mutter mir von Jesus erzählt hatte, nicht wahr, ich wollte es nicht glauben und ich widersprach ihr und der Bibel oft.

Um alles noch schlimmer zu machen, streikten dieses Jahr die Krankenschwestern von British Columbia. Nur Fälle, bei denen es nach ihrer Meinung um Leben und Tod ging, wurden operiert, alle anderen wurden abgesagt. Der Stress für unsere Familie war sehr groß.

Eine erfolglose Operation

Eines Nachmittags klingelte das Telefon und die Krankenschwester am anderen Ende der Leitung sagte uns, dass wir Jessica sofort ins Krankenhaus bringen sollten, weil es für sie am nächsten Tag einen Operationstermin gäbe. Ich legte Wert darauf, dass jeder sie noch mal umarmte, bevor ich sie zum Krankenhaus brachte, denn ich befürchtete, es könnte das letzte Mal sein, dass wir sie lebend sehen.

Selbst ihr Großvater umarmte sie und wollte sie gar nicht mehr hergeben. Jessica war zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre alt. Sie blieb dann über Nacht im Krankenhaus, um sie für die Operation vorzubereiten. Ich war die ganze Nacht bei ihr und trug sie, bis sie am nächsten Morgen um 8:00 Uhr in den Operationssaal gebracht wurde.

An diesem Morgen kam Dr. Leblanc, ein renommierter und bekannter Herzchirurg, ins Krankenzimmer und sagte mir, dass er sich Jessicas Fall gestern Abend bis ins Detail angeschaut hätte. Er sagte, er könne Jessicas Mitralklappe reparieren, ohne sie durch eine künstliche Klappe ersetzen zu müssen. Das freute und erleichterte uns etwas, denn für den Körper gibt es keinen besseren Ersatz als sein eigenes Gewebe.

Nach der achtstündigen Operation sahen wir Jessica in der Intensivstation wieder; sie war an ein halbes Dutzend Maschinen angeschlossen und hatte im und am Körper viele Schläuche. Sie schlief und war gefühllos – und wog nur 19 Pfund.

Wir erwarteten, dass sie für etwa zwei bis drei Tage auf der Intensivstation bleiben würde und dann auf die normale Station verlegt werden würde. Am dritten Tag war sie noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit, aber ich konnte ihren Griff nach meinem Finger spüren. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, rannen die Tränen.

Das Team der Intensivstation versuchte, die Maschinen abzuschalten und betäubte sie einige Male, aber ihr Herz konnte die Belastung nicht aushalten. Sie wurde wieder an die Maschinen angeschlossen. So ging das fünf bis sechs Tage.

Schließlich, am siebten Tag, traf sich Dr. Leblanc mit zwei Herzspezialisten, Dr. Tipple und Dr. Sandoz und teilte uns dann mit, dass er die Operation am offenen Herzen noch einmal durchführen müsse, um eine künstliche Klappe einzusetzen.

Er sagte jedoch, er könne das nicht sofort tun könne, weil er am nächsten Tag auch eine wichtige andere Operation hätte. Er versprach uns, den Eingriff zwei Tage später durchzuführen.

Ich machte mir große Sorgen um Jessicas Zustand, da sie seit sieben Tagen bewusstlos war und nichts gegessen hatte. Ich fragte die drei Ärzte bei dem Treffen, ob Jessica eine weitere Operation am offenen Herzen in ihrem Zustand überleben würde.

Einige Minuten lang schauten sich die Ärzte nur still an und jeder wartete, dass der andere auf meine Frage antworten würde. Schließlich schaute mich Dr. Tipple an und meinte, dass wir keine andere Wahl hätten. Jessica könnte nicht ständig auf lebenserhaltende Unterstützung angewiesen bleiben.

Schweren Herzens unterschrieb ich die Zustimmung, dass die Chirurgen die Operation durchführen könnten. Meine Frau und ich hatten den Eindruck, dass es für Jessica dieses Mal sicher nicht so gut aussah wie vorher.

Hinwendung zu Gott

Wir redeten nicht viel als wir zu Hause ankamen. Ich sagte meiner Frau, sie solle das Bild von Jessica von der Wand nehmen, weil es mich traurig machte, es zu sehen. Zu der Zeit war ich über zwanzig Jahre nicht mehr in der Gemeinde gewesen, noch hatte ich zu Gott gebetet oder sonst mit ihm gesprochen.

Diesen Nachmittag jedoch ging ich in mein Schlafzimmer, machte die Tür zu und kniete mich nieder. Ich bat um Verzeihung, dass ich ein verlorener Sohn sei und bat darum, dass mich Gott nicht als Fremden betrachten solle. Ich bat ihn: „Bitte, gib mir Jessica wieder und bestrafe sie nicht für meine Fehler in der Vergangenheit!“

Wir aßen schweigen zu Abend obwohl keiner von uns richtig Appetit hatte. Eine Weile danach klingelte das Telefon. Ich sprang voller Angst auf. Welch schlechte Nachricht würde es bringen? War Jessica noch am Leben? Sollte ich abnehmen?

Schließlich nahm ich ab und Dr. Leblanc teilte mir mit, dass er die Operation verschieben müsse und Jessica unter Beobachtung stellen würde. Ihr Zustand schien sich plötzlich zu bessern und es sähe so aus, als ob sie sich recht schnell erholen würde.

Wir waren unbeschreiblich glücklich. Früh am nächsten Morgen eilten wir ins Krankenhaus und fanden Jessica wach und freuten uns wie sie uns anschaute. Wir streichelten ihren Arm und ihre Stirn und dankten Gott, dass er uns seine Vergebung und Barmherzigkeit gezeigt hatte.

Innerhalb von zwei Tagen konnte Jessica die Intensivstation verlassen und eine Woche später das Krankenhaus. Bevor wir das Krankenhaus verließen, kam Dr. Leblanc, um Jessica zu untersuchen und ich fragte ihn, was geschehen war.

Er antwortete, dass er nicht wisse, warum Jessica sich so schnell erholt hätte, insbesondere ohne Medikamente. Dennoch wollte er, dass wir jedes Mal, wenn sie zu ihren jährlichen Untersuchungen bei Dr. Tipple im Krankenhaus kommen würde, wir sie zu ihm in sein Büro bringen sollten.

Er ermutigte uns, entweder zu versuchen einen schnellen Termin zu bekommen oder einfach unangemeldet in sein Büro zu kommen. Dazu muss man wissen, dass es nicht einfach ist, einen Chirurg ohne Termin zu sehen.

Jessicas Genesung machte gute Fortschritte. Bis heute geht sie jedes Jahr zur Untersuchung zu Dr. Tipple und sie ist sehr zufrieden mit ihren Fortschritten. Jessica ist jetzt sechzehn Jahre alt und wir beten, dass sie immer eine gute und gläubige Christin sein wird.

Gott ist ein Gott der Barmherzigkeit. Auch wenn seine Wege für uns unergründlich sind, so hat er doch Macht über alles. Amen.